„Ja Buaba, dös ka ma fei it so lossa“: Kindheitsgeschichten aus der Nachkriegszeit in Stadtbergen (1945-1955): 29. Sankt Nikolaus, du guter Mann …

„Ja Buaba, dös ka ma fei it so lossa!“ Kindheitsgeschichten aus der Nachkriegszeit in Stadtbergen (1945-1955): 29. Sankt Nikolaus, du guter Mann …


29. Sankt Nikolaus, du guter Mann …Meine Begegnung mit dem Heiligen Nikolaus lief nicht so ab, wie sie sich heute üblicherweise abspielt: Da sagt der Bubi mit vor Aufregung geröteten Backen sein Verslein auf: „Sankt Nikolaus, du guter Mann, schau her zu mir, was ich schon kann, ich bin jetzt immer lieb und nett, geh‘ ohne Jammern in mein Bett, drum breite deine Gaben aus, bevor du fortgehst aus dem Haus!“ Alle Erwachsenen lächeln zufrieden und Sankt Nikolaus liest aus seinem goldenen Buch einige Verfehlungen vor, die allesamt recht harmlos sind, zum Beispiel: Bubi hat Papas PC mehrfach zum Absturz gebracht, Bubi hat zur Kindergartentante zweimal ein böses Wort gesagt…. . Zum Lohn erhält der Bubi einen wunderbaren Lebkuchen, Mandarinen, Süßigkeiten und erlesene Schokoladen, die in einem riesigen Adventskalender eingearbeitet sind und dazu noch eine Playmobil Ritterburg. Am Ende der Feier wird der Bubi zum Küssen für die anwesende Verwandtschaft freigegeben, weil er doch so tapfer war!Nein, bei mir war alles ganz anders, obwohl auch ich ein Gedicht gelernt hatte: „Lieber, guter, heil‘ger Mann, schau nicht auf das, was ich getan, lass ‚dich nicht verdrießen, dann muss ich auch nicht büßen!“ Es war das Jahr 1946. Im ersten Nachkriegsjahr gab es kaum etwas Süßes. Das Wenige, was es zu kaufen gab, wurde mit Hilfe von Marken zugeteilt: Zucker, Mehl, Backzutaten, Milch, Eier, Fett und Kunsthonig. Zur Herstellung von Plätzchen und Lebkuchen brauchte man viel Fantasie. Unsere Tante Rosa begann schon im November mit der Weihnachtsbäckerei und sammelte in verschiedenen Blechdosen die Ergebnisse ihrer “Backkunst“. Bei unserer Großfamilie musste sie rechtzeitig Vorräte anlegen. Bruder Dietmar und ich hatten es vor allem auf die Lebkuchen-würfel abgesehen, die durch den Gebrauch von Kunsthonig äußerst süß schmeckten und am Gaumen festklebten. Wir nannten sie daher “Klebkuchen“. Schon beim Herstellen des Teiges kreisten wir wie die Geier um den Küchentisch, um ja einen Batzen Teig oder einen Tropfen Kunsthonig zu ergattern. Unsere Tante war von unseren ständigen Attacken ziemlich genervt und schimpfte gereizt: „Verzieht euch ins Kinderzimmer, ihr seid ja schlimmer als Schmeißfliegen, ich will euch hier nicht mehr sehen!“ Am nächsten Morgen roch es zwar noch nach Lebkuchen, doch alle Hinweise auf die gestrige Weihnachtsbäckerei waren verschwunden. Tante Rosa hatte reinen Tisch gemacht. Als unsere Mutter mit der Tante am Abend zu einem Vortrag in die Stadt fuhr und unsere großen Brüder in der Nachbarschaft beim Kartenspiel saßen, ergab sich für uns die Gelegenheit, ungestört die“Klebkuchen“ aufzustöbern. Und wir wurden fündig! Sie waren in einer roten Blechdose im Schlafzimmerschrank unter einem Berg Unterwäsche versteckt. Dietmar öffnete den Deckel und sogleich stopften wir uns gierig die Lebkuchenwürfel in den Mund. Als der Inhalt sichtbar abgenommen hatte, flüsterte Dietmar: „Jeder nimmt noch einen, dann stellen wir die Dose zurück, sonst merkt die Tante was.“In der Vorfreude, dass wir am Nikolausabend schon wieder köstliche Lebkuchen bekommen würden, schliefen wir selig ein. Am nächsten Morgen wurden wir beide lautstark aus unseren Träumen gerissen. „Raus mit euch und ab ins Schlafzimmer, ihr Plätzchenräuber!“ tobte unsere Tante.Sie war beim Anziehen vor dem Schlafzimmerschrank in Lebkuchenbrösel getreten und hatte den Diebstahl entdeckt. „So, Freunde, ihr braucht nichts abstreiten, die Dose ist eh schon halb leer gefressen. Zur Strafe werd‘ ich den Raub dem heiligen Nikolaus melden. Ihr wisst ja sicher, dass der Knecht Ruprecht Diebe gleich in seinen Sack steckt!“„Da nehme ich halt eine Schere mit und schneide den Sack auf, so kann mir nichts passieren,“ gab ich zur Antwort. „Du hast ja keine Ahnung!!“ meinte Tante Rosa, rannte in die Küche und warf wütend die Türe hinter sich zu. Ein paar Tage später war Nikolaustag. Familie Weeger, unsere freundlichen Nachbarn, lud die Kinder aus der Nachbarschaft zu einer Nikolausfeier ein. Man zog uns saubere Hosen und einen frischen Pulli an, die Haare wurden mit einer weißen Creme eingefettet, damit sie in der gekämmten Richtung auch liegen blieben. So herausgeputzt stiefelten wir am Abend mit unserer Mutter und Tante Rosa zu Weegers hinüber. Ich nahm zur Vorsicht die kleine Schere mit und versenkte sie in meiner Hosentasche. Man konnte ja nicht wissen! Als endlich ein Glöckchen erklang, betrat der heilige Nikolaus das Wohnzimmer, gefolgt von seinem polternden Knecht Ruprecht, der einen Sack hinter sich in das Zimmer zerrte und mit der Rute energisch auf den Boden schlug. Dietmar und mir wurde es beim Anblick dieses wilden Gesellen ganz unheimlich. Schließlich glaubten wir, Heilige dulden in ihrer Umgebung keine bösen Menschen. Da lagen wir wohl falsch! Zuerst sangen wir gemeinsam: „Lasst uns froh und munter sein“, dann las der heilige Mann aus seinem goldenen Buch vor. Von allen Kindern konnte er nur Gutes berichten und bat deshalb seinen Knecht, die Gaben zu verteilen. Noch bevor Dietmar und ich dran kamen, waren alle Geschenke weg. Ruprecht zeigte dem Nikolaus den leeren Sack, haute mit der Rute drohend auf den Boden und brummte: „Heiliger Nikolaus, mir ham nix mehr im Sack, i glob, mir könna geha!“ „Oh nein, Knecht Ruprecht, sprach Sankt Nikolaus, „da sind noch die zwei Hierdeisbuben, mit denen habe ich noch ein ernstes Wörtchen zu reden! Die beiden sollen hervortreten. Zuerst der Kleine, der Muck!“ Mit hochrotem Kopf tippelte ich vor den Nikolaus, die rechte Hand in der Hosentasche. „Was hältst du da in deiner Hosentasche fest?“ fragte der Bischof. „Nnnnnnix,“ stammelte ich, „bloß mein Taschentuch.“„Und warum nimmst du die Hand nicht heraus?“ „Weil es mir so kalt ist“, gab ich zur Antwort. Das glaubte mir Sankt Nikolaus aber nicht, denn ich hatte vor lauter Aufregung und Verlegenheit knallrote Backen. Er sprach: „Knecht Ruprecht, sieh nach, was der Muck in seiner Tasche hat!“ und Ruprecht zog mir blitzschnell die Hand aus der Hosentasche. Dabei fiel die Schere auf den Boden! „Ha, da haben wir‘s, was willst du mit einer Schere beim heiligen Nikolaus.?“„Tante Rosa hat gesagt, Knecht Ruprecht nimmt Diebe im Sack mit und wir haben doch Lebkuchen stibitzt. Mit der Schere wollte ich den Sack aufschneiden!“ „Stibitzen nennst du das, wenn ihr eine halbe Dose ausleert! Ihr kommt zwar nicht in den Sack, und die Schere kannst du wieder mit nach Hause nehmen! Dafür gibt es heuer nichts für euch vom Nikolaus, ihr Räuber! Ob ihr an Weihnachten noch Lebkuchen bekommt steht in den Sternen. Wie ich erfahren habe, hat eure Tante schon allen Kunsthonig verbraucht, nicht wahr?“ Tante Rosa nickte zustimmend. Beschämt und niedergeschlagen saßen wir unter den beschenkten Kindern, die den Nikolaus fröhlich singend verabschiedeten: „Nik‘laus ist ein guter Mann, dem man nicht g‘nug danken kann, lustig, lustig, tra-la-la-la-la…“ Wir beide sangen aber nicht mit. Vor Wut brachten wir beide keinen Ton heraus. Erst auf dem Heimweg fand Dietmar seine Stimme wieder und fauchte mir zu: „Das ist alles gelogen. Der Nikolaus ist gar kein guter Mann, tra-la-la-la-la!“Zu Hause angekommen, wollten wir uns traurig in unser Zimmer verziehen, da rief die Mutter: „Hallo, ihr beiden, schaut mal ins Wohnzimmer, für euch wurde etwas abgegeben.“ Und tatsächlich! Auf einem Teller lagen zwei schön gebackene Nikoläuse – aus Lebkuchen! Da hat wohl unsere Tante den heiligen Nikolaus mit ihrer Güte links überholt. Wir fragten aber nicht länger nach, sondern waren einfach nur froh, dass sie schmeckten wie unsere Lebkuchenwürfel und auch am Gaumen festklebten. Einfach wunderbar!(Weitere Geschichten von Winfried Hierdeis in den nächsten Ausgaben des Stadtberger Boten)