Gescicten aus der Geschichte – Historische Betrachtungen von Dr. Heinz Münzenrieder: Das Leid der Gertrud Gräfin von Seyssel d´Aix

Das Seyssel´sche Schlösschen am Klausenberg. Foto: Heinz Münzenrieder

Göggingen Sie war die Ehefrau des Edgar Graf von Seyssel d´Aix, der einem der ältesten Adelsgeschlechter Savoyens entstammte und dessen hugenottische Vorfahren sich im 18. Jahrhundert in Bayern niederließen. Als Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts in Pommern, wandte sie sich von Jugend auf dem christlichen Glauben zu. Nach der Heirat mit Graf Edgar im Jahre 1909 zog sie nach Göggingen. Sie residierten im Schlösschen am Klausenberg, das der Graf – im Königlichen Staatsdienst als wohlbestallter Kämmerer tätig – um die Jahrhundertwende erwarb. Sie unterstütze ihn bei dessen vielen wohltätigen Engagements zu Gunsten der Evangelischen Dreifaltigkeitskirche. Der Stadtberger Lokalhistoriker Alfred Hausmann ist im Rahmen seiner Vor-Ort-Studien der tragischen Vita der Gräfin nachgegangen.
Er beschreibt deren am 5. August 1942 beginnenden Leidensweg, als sie mit 50 weiteren Frauen und Männern aus ganz Schwaben – sie waren alle jüdischer Abstammung – ins KZ Theresienstadt bei Prag deportiert wurde. Insgesamt hatte es sechs solcher Vertreibungen allein aus Schwaben dorthin gegeben. Am Tage vor der „Abreise“ erhielt sie von Pfarrer Wilhelm Koller noch das Abendmahl. Ein späteres Gesuch des Pfarrers auf Entlassung an die Berliner Reichkanzlei wurde nicht beantwortet. Auch die Tatsache, dass die Gräfin blind war, fand keinerlei Beachtung. Und trotz allem hatte sie ein klein wenig Glück im Unglück. Sie überlebte das Ghetto Theresienstadt, das am 20. April 1945 durch die Rote Armee befreit wurde. Gehörte sie doch zu den 16.000 von 140.000 Häftlingen, die dort nicht ums Leben kamen bzw. die nicht in die Todeslager – etwa Auschwitz – geschafft wurden.
Im KZ Theresienstadt – so beschreibt es Alfred Hausmann – machte Gräfin Gertrud die Bekanntschaft mit der ebenfalls erblindeten bekannten Bühnenautorin Elsa Bernstein. Diese rezitiert in ihren Erinnerungen Gespräche mit ihr. So etwa, dass Graf Edgar – obwohl erschüttert über Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Sturz der Monarchie – sich mit der neuen Staatsform abfand und sogar den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten wählte. Und dass der Graf die Nationalsozialisten verabscheute. Alfred Hausmann vermutet, dass die Gräfin ihr Überleben nur den hohen Tapferkeitsauszeichnungen ihres Mannes als Teilnehmer am Ersten Weltkrieg verdankte. Gräfin Gertrud kommt schließlich wieder zurück ins Schlösschen am Klausenberg zu Tochter Gabriele und stirbt 1965. Begraben wurde sie auf dem Gögginger Friedhof. Und an Graf Edgar – der schon 1939 verstarb – erinnert heute eine Straße nahe des früheren Gögginger Postamts. So ist es: Die örtliche Geschichte ist immer ein Abbild der angeblich großen Historie. Im Guten und – wie hier – im Schlechten.

Info: Alfred Hausmann hat die Lebensgeschichte von Gertrud Gräfin von Seyssel d´Aix beschrieben im Gemeindebrief der Gögginger Dreifaltigkeitskirche (Frühjahr 2021).