„Ja Buaba, dös ka ma fei it so lossa!“: Kindheitsgeschichten aus der Nachkriegszeit in Stadtbergen (1945-1955)

„Ja Buaba, dös ka ma fei it so lossa!“: Kindheitsgeschichten aus der Nachkriegszeit in Stadtbergen (1945-1955)


13. Der Herr Dekan Dekan Wilhelm Heffele war Konrad Adenauers Jahrgang 1876, wurde 1901 zum Priester geweiht und war seit 1915 Pfarrer in Stadtbergen. Als wir ihn im Unterricht erlebten, war er schon 74 Jahre alt. In diesem Alter wäre heute kein Pfarrer mehr bereit oder auch in der Lage, sich in die Schule zu stellen. Wir damals waren ziemlich brav und wussten unseren alten Herrn Dekan zu nehmen.Der Pfarrer roch sehr intensiv nach Zigarren. Das fiel mir, der aus einer Nicht- raucherfamilie stammte, sofort auf. Er kam nie im Anzug, sondern immer in seiner langen, schwarzen Soutane. In dieser war ein Futteral für einen Rohrstock eingenäht. Der hatte den Kosenamen “Bullibeiß“. Es sah so aus, als ob Herr Pfarrer während des Unterrichts die Arme vor sich verschränken würde, aber das war nur Tarnung. In Wirklichkeit führte er die rechte Hand in die Soutane hinein zum Stockende und hielt dieses für uns stets griffbereit fest. Wenn nötig, riss er den Stock aus der Soutane hervor und ließ ihn auf den vermeintlichen Übeltäter unter wüsten Beschimpfungen herniedersausen. Mit der linken Hand hielt er den Katechismus oder ein Vorlesebuch vor die Brust. So blieb für uns Kinder die ausziehbereite rechte Hand verdeckt.Wurde der “Bullibeiß“ aktiviert, war das meist eine Riesengaudi, denn der Herr Pfarrer haute wahllos dem ersten Besten neben ihm eine drauf. Der Getroffene schob seine Nachbarn einfach aus der Bank heraus und die Schläge trafen ins Leere. Wenn sich der Pfarrer beruhigt hatte, dann wurde der “Bullibeiß“ wieder in sein dunkles Verließ gesperrt.Wir Kinder mochten unseren Herrn Dekan gerne, daher musste der “Bullibeiß“ auch nur selten zum Einsatz kommen. Im Gegenteil, wir bettelten den Pfarrer an: „Herr Dekan, a’ G’schichtle!“ „Wenn ihr Sappramenter brav seid’s, dann lies i’ euch nachher was vor!“ Seine Geschichten waren echt toll. Er las z.B. aus dem “Hölzernen Bengele“ vor, aber auch von geheimnisvollen, nie aufgeklärten Todesfällen, von Scheintoten, die lebendig begraben wurden, deren Sargdeckel beim Exhumieren innen verkratzt waren. Uaa! …. Das war Hochspannung pur im Religionsunterricht. Der Besuch der Geisterbahn auf dem Plärrer war dagegen ein Kindergartenausflug. Problematisch wurde es für ihn nur, wenn wir schon bei der Begrüßung ein Geschichtle forderten. Das dauerte, bis er uns beruhigt hatte. Dekan Heffele war für deftige Sprüche stets zu haben. Als wir ihm berichteten, dass die 8. Klässlerin Elfi einen amerikanischen Freund poussierte und sich die Lippen an’gschmiert habe, meinte er lakonisch: „Dös isch doch mir Wurscht, von mir aus schmiert sich die d’ Hintera o no a.!“Nach unserer Erstkommunion saßen wir beim Sonntagsgottesdienst immer in den kleinen Bänken im Chorraum der Kirche. Unsere schönen Gewänder wurden für die Firmung zurückgelegt. Deshalb trugen wir auch sonntags gerne unsere Lederhosen. Das gefiel dem Herrn Dekan überhaupt nicht. Drum rief er uns von der Kirchenkanzel aus zu: „Und ihr da vorn mit eure lederne Pfurzkäschta braucht’s net moina, dass ihr so zur Kommunion geha könnt’s!“ Die Anweisung hatte jeder verstanden und in der Kirche brach vor allem bei den Erwachsenen große Heiterkeit aus. Im Monat Mai fanden in unserer Pfarrkirche regelmäßig Maiandachten statt. Am Ende der Sonntagsmesse verkündete Herr Dekan: „Am nächschta Sonntag isch bei uns um 18.00 Uhr Maiandacht. Zur selben Zeit findet au die Kobelwallfahrt der Frauen statt. Aber dass ihr mir net da alle ’naufspringt’s! Unsere Madonna isch genau so schöa wia dia da doba!“Wir Kinder freuten uns, wenn wir den Herrn Dekan auf der Straße trafen. Man sagte: „Gelobt sei Jesus Christus“ und reichte ihm die Hand. Dann durfte man neben ihm hergehen. Da kam man sich gleich ein wenig besser vor. Nur beim Herrn Dekan musste man bei allem Gefühl der Heiligkeit auf der Hut sein: Ohne Vorwarnung schnäuzte er unter Verzicht auf sein Taschentuch, einfach Daumen und Zeigefinger an die Nase, zur Seite. Wenn man da nicht drauf gefasst war, konnte es einen leicht erwischen. In seinem jahrzehntelangen Bemühen, seine Stadtberger dem Himmel zuzuführen, bewies er Beharrlichkeit, manche behaupteten auch, er sei dabei recht stur gewesen. Dies hat uns jedenfalls unser Hausherr (Jahrgang 1905) berichtet, der den Dekan in seiner Kindheit auch schon erlebt hatte. Als 14-jähriger Bub war mit dem Fahrrad auf dem Weg von Deuringen hinunter nach Stadtbergen. Da gab es nur einen schmalen Feldweg, der links und rechts durch hohe Grasnarben eingegrenzt war. Das Rad hatte noch keine Rücktrittsbremse und gewann ungebremst den Berg hinunter rasend an Fahrt. Plötzlich bemerkte der Junge, dass ihm eine dunkle Gestalt mitten auf dem schmalen Weg entgegenkam. Es war der Herr Pfarrer Heffele, der zu seinen Schäfchen nach Deuringen hinaufspazierte. Der Junge schrie: „Hilfe, Hilfe, aus der Bahn, i kann net bremsa!“ Die Hilferufe wurden von dem Priester ignoriert, der Bub musste mit seinem Rad ausweichen und stürzte in ein Weizenfeld. Nun war das Radl hin, die Knie waren aufgeschunden! Humpelnd und enttäuscht schob er sein Rad heim und wich in Zukunft dem Herrn Pfarrer samt seiner Kirche aus.(Weitere Geschichten von Winfried Hierdeis in den nächsten Ausgaben des Stadtberger Boten)