„Ja Buaba, dös ka ma fei it so lossa!“: Kindheitsgeschichten aus der Nachkriegszeit in Stadtbergen (1945-1955)

„Ja Buaba, dös ka ma fei it so lossa!“: Kindheitsgeschichten aus der Nachkriegszeit in Stadtbergen (1945-1955)


5. Die neue Straßenbahn fährt, aber nicht für unsWeil meine Mutter lieber zur Kirche St. Michael in Pfersee als nach St. Nikolaus ging, mussten wir mit ihr an Sonntagen sehr oft den Weg dorthin zu Fuß machen. Die Straßenbahn fuhr erst ab Dezember 1947 nach Stadtbergen und endete vorher am Westfriedhof. Wenn wir den Weg bis dorthin geschafft hatten und die Tram abfahrtbereit dastand, trieb uns die Mutter mit der Bemerkung zum Weiterlaufen an, dass es sich wegen der zwei Stationen bis zur Leitershofer Straße nicht mehr rentiere, mit der Tram zu fahren.Die Weiterfahrt hätte für uns alle ca. zwei Mark gekostet und das war finanziell nicht drin. Auf unserem Kirchgang nach St. Michael konnten wir den Baufortschritt der Tramverlängerung nach Stadtbergen gut beobachten. Endlich, am 22. Dezember 1947 war es so weit. Wir Erstklässler wurden eingeladen, zur Eröffnung der neuen Tramstrecke vom Stadtberger Hof zum Bräu und zurück mitzufahren. Bei der Rückkehr gab es heiße Würstel und eine Semmel. Da war Weihnachten schon vorweggenommen!Ab jetzt wollte ich auch ohne Widerspruch in die Michaelskirche gehen. Es fuhr ja die Tram! Aber Täuschung! Die Tram fuhr zwar, aber weiterhin ohne uns! „Das Bisschen Weg schadet euch nicht!“ war Mutters Kommentar. Vorbildlich führte sie unseren Familientross an und sparte das Fahrgeld ein. Ab der zweiten Klasse durfte ich mit Bruder Dietmar die Singschule besuchen. Der Unterricht fand ebenfalls in Pfersee statt, in der Hans Adlhoch Schule.Diese ist etwa 300 Meter von der Kirche St. Michael entfernt. Für den Schulbesuch gab es wiederum kein Fahrgeld. „Ihr kennt den Weg ja schon vom Kirchgang. Die Schule ist ganz in der Nähe der Kirche. Da könnt ihr gut laufen, ihr habt ja Zeit dazu!“ Und schon wieder tippelten wir der Straßenbahnlinie entlang nach Pfersee. Die Tram fuhr ohne uns an uns vorbei!Manchmal, so glaube ich heute, verlängerte unsere Mutter durch diese Sparmaß-nahme absichtlich unser Fortsein, damit die beiden großen Brüder in der Küche in Ruhe ihre Hausaufgaben machen konnten. Die Küche war ja der einzige Raum in der Wohnung, der während der Woche beheizt wurde. Ein warmes Wohnzimmer gab es nur an Sonn – und Feiertagen oder wenn Besuch kam. Dietmar und ich sorgten am gemeinsamen Heimweg von der Singschule für genügend Kurzweil: Beim Glockenputzen musste man vorsichtig sein, damit man nicht immer bei derselben Partei läutete. Sonst wurde man abgepasst und dann setzte es Watschen. Am Oberen Stadtweg bellten oder jaulten wir so laut, dass uns alle Hunde aufgebracht ankeiften und an den Gartenzäunen hin- und herhetzten. Das Hundegebell war ein sicheres Signal für unser baldiges Eintref- fen. „Ihr Großen, räumt den Tisch ab, wir können Abendessen, unsere “Sänger“ hört man schon!“ sagte Mutter und lag mit ihrer Vermutung richtig.6. Prinz und PrinzessinDie Faschingstage wurden von uns heiß erwartet, hatte doch unser Schulleiter, verfügt, dass alle Kinder am Faschingsdienstag maskiert in die Schule kommen dürfen. Ein Jubelschrei wanderte von Zimmer zu Zimmer unseres alten Schulhauses, je nachdem, wo diese wunderbare Meldung gerade eingeschlagen hatte.Aber, als was sollte ich mich maskieren? Man kaufte keine Faschingskostüme, dazu fehlte das Geld, und die Auswahl war gerade nicht berauschend.Wollte man Indianer sein, dann konnte man im Dorf Gänsefedern für den Kopfschmuck sammeln. Die Mutter musste an die alte Hose ein paar Fransen annähen – und fertig war Old Shatterhand! Heuer wollte ich aber keinen Indianer machen! Auch Cowboy kam für mich nicht in Frage, obwohl die Zutaten leicht aufzutreiben waren. Man brauchte einen alten Hut und eine Weidenrute mit Schuhbändel oder Schnur für die Peitsche. So liefen in den Faschingstagen schon genügend Kinder herum. Nein, ich wollte etwas ganz besonderes machen!Die Mama meiner Mitschülerin Carola machte uns den Vorschlag, als Prinz und Prinzessin aufzutreten. Der Vorschlag gefiel mir. Vom Sternsingen hatte ich noch eine goldene Krone im Schrank, Frau W. wollte für mich und ihre Tochter von einem Stoffrest rote Samtjacken nähen. Für den Schleier war eine weiße Stoffserviette vorgesehen, die Schleppe, eine alte Gardine sollte ich in würdevollem Abstand hinter Carola hertragen. Als ich meine Prinzessin am Faschingsdienstag zur Schule abholte, war das Wetter saumäßig. Es schneite in dicken, großen Flocken, die unbefestigten Gehwege waren aufgeweicht, lehmig-schmierig. Damit die lange Schleppe nicht in den Schmutz fiel, hielt ich sie immer höher und vergrößerte gleichzeitig meinen Abstand zur Prinzessin. Dadurch spannte sich das lange Ding. Ich hatte keine Ahnung, wie Frau W. die Gardine am Rock ihrer Tochter befestigt hatte und trottete in gebührendem Abstand hinter Carola her. Schon auf dem Weg zur Schule hörten wir von der anderen Straßenseite her beifällige Äußerungen: „Mei, so ein schönes Prinzenpaar!“ oder „Nett sehen die beiden aus, gell!“Mit stolz geschwellter Brust kamen wir der Schule näher. Doch da rief plötzlich jemand: „Herr Prinz, halte die Schleppe tiefer, man sieht ja die Unterhose der Prinzessin.“ Das durfte nicht sein! Ich schloss sofort zu Carola auf. Dabei fiel die Schleppe in den Dreck, wurde nass und lehmig. In der Schule angekommen, machte unsere Lehrerin das unansehnliche Teil vom Rock ab und Carola wickelte es zu einem feuchten Bollen zusammen. Obwohl wir konkurrenzlos waren, wurden wir von unseren Mitschülern auch ohne Schleppe zum schönsten Prinzenpaar gewählt. Wir freuten uns über unseren gelungenen Aufzug und das, obwohl ich fast mit dem 6. Gebot kollidiert wäre. Ja,ja, eine Schleppe kann noch so lang sein.