„Ja Buaba, dös ka ma fei it so lossa!“ Kindheitsgeschichten aus der Nachkriegszeit in Stadtbergen (1945-1955) 35. Lockvögel |
In Zeiten, in welchen Familienväter nur selten oder gar nicht mehr zur Verfügung standen, wurden Erziehungsfragen von Müttern oder Omas oftmals sehr pragmatisch gelöst. An Fantasie und dem nötigen Durchsetzungswillen fehlte es nicht. „Mit Speck fängt man Mäuse!“ sagt der Volksmund. Was tun, wenn kein Speck zur Verfügung steht? Da helfen nur Lockvögel! Unserem Hause gegenüber wohnte Oma Strohmayr. Sie war schwer gehbehindert und humpelte nach vorne gebeugt auf eine Krücke gestützt in kleinen Schrittchen vorwärts. Bei ihr wohnte Enkelsohn Eugen, weil er schon auf das Gymnasium ging. Seine Eltern lebten indes mit dem jüngeren Bruder Elmar in Graben auf dem Lechfeld, wo der Vater als Lehrer bis zu seiner Versetzung nach Augsburg wirkte. Nach und nach zog dann die Familie in das Haus der Großmutter, zuerst die Mama mit dem kleineren Bruder, der Vater kam als Letzter nach. Das Eugend’le, wie die Oma ihren Enkelsohn liebevoll nannte, wurde von ihr sehr verwöhnt. Sie las ihm jeden Wunsch von den Augen ab und Eugen wuchs mit zunehmendem Alter nicht nur in die Höhe. Eugen war ein wenig älter als meine großen Brüder und mit ihnen befreundet. Gerne saßen sie beim Kartenspiel zusammen, bevorzugt Tarock. Da ich seit meiner Erstkommunion stolzer Besitzer eines Fußballs war, durfte ich mit den Großen auf dem Sportplatz an der Osterfeldstraße mitbolzen. Oma Strohmayr kam oft mitten im Spiel herangehumpelt und rief: „Eugend’le, komm hoim, dös Essa isch fertig!“ Doch Eugen hatte was auf den Ohren und ignorierte seine wild mit der Krücke gestikulierende Oma, indem er sich in weiter entfernten Regionen des Fußballplatzes zum Einsatz brachte. In ihrer Not rief Oma Strohmayr meinen Brüdern zu: „Bernhard, Helmwart, kommt’s mit zum Essa, heut gibt’s a guate Supp und Zwetschgaknödel. Wenn ihr mitgohts, dann goht mei Eugend’le vielleicht o hoim!“ Meine Brüder ließen sich nicht lange bitten. Sie brachen sofort das Spiel ab und riefen mir zu: „Sag Tante Rosa, wir essen heute beim Spindler Eugen!“ Dann begleiteten sie Oma Strohmayr nach Hause. Als Eugen dies aus der Ferne beobachtete, konnte er schlagartig wieder hören und rannte dem Trio nach. Seine Angst war doch zu groß, die Freunde könnten ihm das Essen streitig machen. Dietmar und ich schnappten unseren Ball und machten uns ebenfalls auf den Heimweg. Die Lockvogelaktion brachte uns beiden auch einen Vorteil: Wegen des auswärtigen Einsatzes der großen Brüder fiel unser Mittagessen reichlicher aus. Wir waren daher Oma Strohmayer recht dankbar, dass sie unsere Brüder immer wieder als Lockvögel zum Einsatz brachte. (Weitere Geschichten von Winfried Hierdeis in den nächsten Ausgaben des Stadtberger Boten)